Clinical Reasoning (CR)
In der Ausbildung/Studium oder die Praxis werden wir früher oder später mit dem Begriff vom Clinical Reasoning konfrontiert. Die Begrifflichkeiten können sehr verwirrend sein. Verwirrender ist es dann die verschiedenen Aspekte des CR im Praktikum anzuwenden. Dieser Post soll etwas Licht ins Dunkele bringen.
Was bedeutet CR
Aufgrund einer medizinischen Diagnose kann bzw. sollte keine Therapiegestaltung aufgebaut werden (Beispiel: LWS Syndrom oder SIG Blockade,…).
Es wird zusätzlich eine physiotherapeutischen Befundung benötigt um darauf aufbauend Hypothesen aufzustellen wo das Problem herkommen könnte und welche Lösungen dafür am besten geeignet wären.
Diese Hypothesen werden anhand des klinischen Denkens oder Clinical Reasoning aufgestellt.
Ziele und Eigenschaften
Durchführung einer gründlichen Anamnese und Befunderhebung:
Red Flags vorhanden? --> zurück zum Arzt schicken (Red Flags bei Rückenschmerzen kommen in einem separaten Blogpost)
Keine Red Flags --> Hypothesen, anhand der Hypothesekategorien, aufstellen über die mögliche Herkunft der Problematik
Behandlungsplan aufbauen mit notwendigen Maßnahmen, die zum gesetzten Ziel passen
Die Interventionen werden durchgeführt und bei Bedarf angepasst, um die Ziele zu erreichen
Ständige Reflexion der Interventionen und bei Bedarf anpassen
Hypothesekategorien
Pathobiologische Mechanismen:
Welche Schmerzmechanismen sind vorhanden? (nozizeptiv, peripher neurogen, zentral,...)
Welche Gewebsheilungsprozesse sind vorhanden? (Entzündungsphase, Proliferationsphase,...)
Dysfunktionen
Wie manifestieren sich die pathobiologischen Mechanismen? (Entzündungsphase, daraufhin: Schmerzen und Bewegungseinschränkung, daraufhin: Probleme beim Laufen
Es wird unterschieden:
Generelle Dysfunktionen: Hauptproblem des Patienten
Spezifische Dysfunktionen: Befunde aus der Untersuchung die zum Problem beitragen können
mentale, psychologische Dysfunktion: Stress, Angst, Vermeidungsverhalten
Quellen der Symptome
Wo kommt der Schmerz her?
Welche Struktur(en)/Bereiche des Körpers sind womöglich primär verantwortlich für die Symptome? (Beispiele: muskulär oder nerval)
Beitragende Faktoren
Jegliche Faktoren die zur Prädisposition, Aufrechterhaltung und/oder Verschlimmerung der Symptome führen
Beispiel: Psychosoziale Faktoren --> Angst, Vermeidung, Katastrophisieren
Prognose:
Ist es physiotherapeutisch zu behandeln?
Wenn ja: in welchem Zeitraum?
Wie wird womöglich das Ergebnis aussehen?
Vorsichtsmaßnahmen
Redflags und Yellow flags?
Worauf muss ich beim dem Patienten achten ? (nicht endgradig bewegen, keine Rotationen usw.)
Management
Was ist das Ziel?
Ziel des Patienten
Ziele des Therapeuten nach den ICF Kategorien
Welche Therapiemaßnahmen sind sinnvoll?
Wie soll der Behandlungsplan aussehen?
Praktisches Beispiel
Patient/in (43 Jahre) kommt mit der Diagnose: Lumbalgie in die Praxis. Sie erzählt, dass sie sich vor 4 Tagen verhoben hat und sich seitdem nicht mehr bewegen kann. Sie war beim Arzt und es ist glücklicherweise nichts Besorgniserregendes in den bildgebenden Verfahren zu erkennen. Sie hat starke Morgen- und Belastungsschmerzen 7/10 vor allem beim nach vorne Bücken. Wenn Sie nichts tut ist es ein leichter Schmerz 3/10. Sie hat sehr viel Angst ihren Beruf als medizinische Fachangestelltin nicht mehr durchführen zu können. Jetzt ist Sie bei dir in Behandlung.
Hypothesekategorien:
Pathobiologische Mechanismen
Es sieht ganz danach aus als wäre es ein nozizeptiv-entzündliches Schmerzmuster
Vor 4 Tagen
Klarer Auslöser: verhoben vor 4 Tagen und das Bücken löst den Schmerz immer wieder aus.
Belastungsschmerz
Pathobiologisch:
Verhoben: Der Körper war einer Belastung ausgesetzt die es nicht gewohnt ist: starker Reiz führte zur Erregung von Nozizeptoren die die Information: Gefahr an das Gehirn weiterleiten. Das Gehirn interpretiert die Situation als Gefahr und löst deshalb Schmerzen aus und erhöht möglicherweise den Tonus der Muskulatur um den Bereich zu schützen.
Dysfunktionen
Wie manifestieren sich die pathobiologischen Mechanismen?
Aufgrund des nozizeptiv entzündlichen Musters: Die Patientin kann sich nicht mehr bücken
Quelle der Symptome
Wo kommen die Symptome her?
Da eine Fraktur und einen Bandscheibenvorfall mit Druck auf die Nerven ausgeschlossen wurde und da Druck aufs Weichteilgewebe Schmerzen auslöst ist es womöglich muskulär bedingt.
Womöglich die Rückenstrecker reagieren im Moment sehr sensibel auf äußere Reize
Beitragende Faktoren
Welche weiteren Faktoren sind vorhanden die zu den Symptomen beitragen?
Sie hat Angst, dass Sie Ihren Beruf nicht mehr ausüben kann
--> Angst verstärkt den Schmerz
Prognose
Ist es physiotherapeutisch zu behandeln?
Ja
Wenn ja: wie lange wird das Problem bestehen bleiben?
95% der unspezifischen Rückenschmerzen gehen nach einigen Wochen von allein weg. (Quelle)
Wichtig ist die Angst des Patienten zu nehmen da die möglicherweise dazu beitragen können, dass die Symptome länger präsent bleiben und im schlimmsten Fall zur Chronifizierung führen können.
Vorsichtsmaßnahmen
Worauf muss ich bei dem Patienten achten?
Auf die Kommunikation achten. Diese sollte die Angst nicht verstärken sondern eher beruhigend wirken.
Keine physiotherapeutischen Diagnosen dem Patienten offenbaren die womöglich Angst auslösen können
"Ich glaube ihre Faszien sind verklebt"
"Ich glaub ihr Rücken ist verrenkt/ausgerenkt"
"Ich glaube ihr Bein ist kürzer als das andere"
"Ihr Becken ist schief"
Es sind psychosoziale Faktoren wie Angst vorhanden
Wie hoch ist das Chronifizierungsrisiko bei ihr?
--> Ermitteln durch das Start-Back-Tool
Management
Was ist das Ziel
Hauptziel des Patienten
"Wieder arbeiten gehen können"
"Sich wieder normal bücken können, ohne Schmerzen"
Ziele des Therapeuten nach ICF und nach SMART
Struktur und Funktion
- Reduktion des Belastungsschmerzes von 7/10 auf 1/10 nach den 6
Behandlungseinheiten
-Verbesserung der schmerzfreien Rückenflexion vom Anfang (Vorherbilder mit dem
Handy des Patienten machen) bis zum Boden nach den 6 Behandlungseinheiten
Aktivität und Partizipation
- Sich schmerzfrei auf den Boden bücken nach den 6 Behandlungseinheiten
- Wiedereinstieg in den Beruf nach den 6 Behandlungseinheiten
Was sind sinnvolle Therapiemaßnahmen?
Maßnahmen basieren auf die Nationalleitlinie von unspezifischem Kreuzschmerz
- Edukation über die Schmerzentstehung zur Angstreduktion
- Massage zur Reduktion von akuten starken Schmerzen
- Aktive Therapie: Stufenweise Belastungssteigerung/Graded exposure
Wie soll der Behandlungsplan aussehen
Behandlungsplan der nächsten 6 Einheiten mit Zielen und Maßnahmen
Abb.1 Clinical Reasoning Prozess
Zusammenfassung:
Beim CR kommt es darauf an genügend Informationen zu sammeln um anhand dieser Hypothesenkategorien, Hypothesen aufzustellen und darauf aufbauend die Untersuchung und Intervention zu planen. Dabei ist es immer wichtig stetig aufs neue die Interventionen zu reflektieren und bei Bedarf anzupassen (Zeigt die Patientin doch kein entzündlichen Muster mehr, ist die Quelle doch nicht muskulär sondern liegt sie woanders).
Es ist ein Prozess, in dem Hypothesen auch wieder verworfen werden können.
Durch das CR können wir eine individuelle Therapie für den Patienten planen. Es soll ein Behandeln nach Kochbuchrezept (Lumbalgie also Planks, oder SIG-Blockade also MT) verhindern. Es gilt herauszufinden wo die Symptome und die dadurch verursachten Einschränkungen im Alltag herkommen und wie diese am besten behandelt werden können.
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